Leviathan-
die Blüte des
Fragmentes
Das Fragment ist ein
Fundstück, das zwar den Bezug auf das Ganze ahnen lässt, jedoch
aufweist, wie sehr ein interpretierendes Spüren als Befragung auf
dieses Ganze erforderlich ist.
Kurz: das Fragment täuscht uns nicht die Wahrheit als Aussagbares vor,
sondern die Frage der Wahrheit, des Ganzheitsbezuges, stellt sich immer
als Befragung der Wirklichkeit als Gefundener dar.
Insofern ist das Fragmentarische Keim einer Unruhe, einer Suche.
Das Fragment ist im Sinne des Gesagten immer Aufstand gegen das System, gegen die Systeme.
Es ist Ungewissheit, aber in keiner Weise eine Ermutigung der
Unwissenheit. Archäologisch ist es der Gegenstand, der von der
Fremdheit des Vergangenen zeugt. Aus der Gegenwart ist es jene
Ungewissheit des Ausgangs, der von der Fremdheit des Zukünftigen
´erzählt´.
In dieser Richtung weitergedacht ist das Fragment eine Erzählung von der Fremdheit der Gegenwart.
Das Gefundene, das Konkrete, ist Zeugnis existenzieller Fremdheit,
einer Fremdheit, die man auch als Grundlage des Staunens, des
Erschreckens- schlicht als Basis von Wirklichkeitskontakt- ansehen darf.
Das gefundene Fremde kann nie ein Erdachtes sein, das wir schon
wussten. Das Unfertige, Bruchstückhafte, ist nicht End- sondern
Ausgangspunkt des Denkens und Schauens.
Andererseits ist das Auffindbare nie voraussetzungslos.
Das Fragment ist zwar das Neue, jener Topos, der in fataler Weise die Neuzeit beherrscht.*
Aber das Fragment ist ein Neues, das schon war: es ist ein altes Neues.
Dieses Neue steht nicht für ein infinites Wachstum, sondern für jenen
Zerfall des Gewachsenen, der wieder neues Wachsen hervorbringt.
Der Zerfall ist in diesem Denken nicht Endpunkt, sondern Zeugungsraum.
Das Ephemere, Vorrübergehende, ist nicht mehr Gegensatz zum statuarisch
Verweilendem. Der Augenblick ist nicht mehr Gegensatz zu Ewigkeit.
Indem das Fragment den Augenblick beschleift, bleibt es nicht an Mode
und Zeitgeist hängen. Indem es Zeugnis der Zeit ist, verweist es auf
jene Überzeitlichkeit des Augenblicklichen.*
*Und dies ist es, was die Ausrichtung auf das Fragment von jenem Topos des Neuen unterscheidet.
Im positivistischen Denken der Neuzeit wird das Neue zur Utopie,
zum perfekteren (para-diesischen) Diesseits. Damit wird das
Neue
paradox zur Diesseitsflucht, zu einer Verunmöglichung des
Augenblicks und seiner Erfahrung. Das Neue ist hier ein Topos
der
Daseins-Verweigerung!
*Vermutlich ist es kein Zufall, dass die Ergebnisse der Neuzeit in
Wissenschaft und Gesellschaft allzu häufig Ereignisse der Ausbeutung,
Zerstörung, von Natur und vom Menschen darstellen. Ich nenne
Umweltproblematik durch Verbrauch der Resourcen. Ich nenne den
Gedanken der „Perfektionierung des Menschen“. Ob es sich dabei
um Brustimplantate, Brainenhancement oder pränatale Selektion handelt,
bleibt sich im Einzelnen gleich. Die Marschrichtung bedeutet
eindeutig eine Missachtung des Vorhandenen im Namen eines
besseren Neuen
hinaus.
Kurios dabei ist, dass das neuzeitlich positivistische Denken
den Begriff des Neuen selbst gar nicht begründen kann. So erhält er in
diesem
Denken einen quasi – religiösen Status der Unhinterfragbarkeit
und offenbart den antireligiösen Positivismus selbst als religiöse
Verfasstheit.
LEVIATHAN ungestürzter Becher des Chaos, urgestaltig und ungezähmt.
Canceröse Macht- Unmacht. UnRecht- UNgerechtigkeit.
Leviathan der Mensch
als Wolf Einer dem Anderen. Die Gemeinschaft
Schutz der Kastration.
Der Staat ein Gebilde der Kastrierten.
Losgelassen aber
frisst Einer den Anderen und zerfleischt sich selbst. Unklug
ist also das Leben an sich.
Der Mensch skurril und absurd
wie die Natur, die
ihn hervorbringt
Aber andererseits auch solche Zeugnisse:
der Mensch ist des Menschen Freund (Thomas v. Aquin)
Was ist es, das die Ordnung begründet:
Die Angst?
Oder vielleicht doch eher
das Für Einander Sorgen
die Liebe?
Was für ein jämmerliches Leben
als Zeit der Notdurft
und Notdurft
zwischen erster und letzter Notdurft
als Vermeidung des Schlimmen
und Schlimmeren
Getrieben von
der Angst
nie aber
von der Freundschaft zur Weite
vom freien Atem
nie von der Blüte
immer nur von der Sorge
ums Vergehen
Ist dies das Prinzip des Lebens
so ist Leben ein Synonym
für Tod
So ist Tod nur das Verweilen
im Erschaudern
Der Titel Leviathan-
deutet im Letzten auf die Fragestellung, worauf menschliche
Gesellschaft gründet. Auf der Angst der Vermeidung oder auf der Liebe
und in Vertrauen in den Menschen, wo er sich in seiner wirklichen
Dimensionalität offen
lässt?
Bezogen auf die Skulptur lautet die Frage: Ist Ordnung nur ängstliches
Zitat des Approbierten oder ist Ordnung die Freiheit, in der sich die
Dinge intuitiv zu einander fügen? Ist Ordnung also eine Dressur der
Wirklichkeit oder die Sprache von
Wirklichkeit?
Oder anders: Müssen wir den Dingen eine Ordnung geben als Antidot
unserer Angst - oder haben die Dinge schon eine Ordnung, die wir
aber erst in der Freiheit des Spiels entdecken
können?
Der alte Gedanke der Proportion, der ausgewogenen Bezogenheit der Dinge
aufeinander ist es, der als Gedanke der Gerechtigkeit in die sozialen
Bezüge reicht. Insofern: Falls es jemals eine soziale
Plastik gab, so war es keine Luxusrealität, sondern es ist immer schon
das Gefühl für eine Gesellschaft, die in ihrem Vermögen zur Würde der
Würde und Größe des Menschen zu entsprechen vermag. Eine solche
Gesellschaft kann sich aber nie auf reine Materialität, auf Besitz und
konventionelle Gesetze, die diesen Besitz schützen, stützen. Sie
muss nach wirklicher Realität fragen und darf die Konvention nur dort
akzeptieren, wo sie der dimensionalen Realität des Menschen und der
Welt entspricht. Und nur insofern sie die Frage nach dem Menschen als
Frage eines nicht rein Naturalen zu stellen vermag, nur insofern kann
sie Ort der Verwirklichung von Gerechtigkeit werden.
Gerechtigkeit ohne Transzendenz ist unmöglich, denn ohne jenen Sinn für
die transzendente Dimensionalität des Menschen mutiert
Gerechtigkeit zu einem kybernetischen
Konventionalismus.
Nun kommen also die Begriffsfelder des Titels zusammen: wir haben die
Dimensionalität von Wirklichem in der Gestalt des Fragmentes und die
Metapher des Leviathan als Befragung gesellschaftlicher Realität des
Menschen – und dies in einer Zeit, in der die Staatsgebilde
entgegen dem Hobbeschen Bild vom Staat alle Kraft verloren zu haben
scheinen, den Schwachen vor dem usurpatorischen Zugriff des Starken zu
schützen.
Und wie ein Drittes steht die Gestalt des Leviathan-Behemot wie ein
Mene-Tekel auf unseren Wänden: „Euer Silber wird zu
Schlacke!“
Patrick Feldmann 2012, anlässlich der "umfassenden Werkschau" vom 11.3.12- 1.5.12 in der Galerie Rosemarie Bassi, Remagen