Das  Auge des Unsichtbaren                                                    

Die Dinge sind dunkel und ihr Geheimnis ist unser Geheimnis.
Die Welt der Dinge ist ein Ort des Lernens. Ihr Eigentliches tragen die Dinge aber nicht auf ihrer Haut. Die Haut der Welt ist ein trostloser Ort denn sie zeigt uns allein immer wieder, was wir von allem schon zu wissen meinen.  Die Hautsicht ist das Notprogramm des Sehsinns, um der Welt das Ängstliche und Verstörende ihrer anarchischen Beziehungslosigkeit zu nehmen.

Etwas und Bewegung werden zu Fingern: Hand, meine Hand.
Der Stock wird von der Hand getrennt: Ich- Nichtich. Viele Hände sind nicht mein: Eure Hände: Ich-Nichtich- IhrAnderen.
Das Nichtich stellen wir in den Dienst des Ich. Das Ich wird zur zentralen Instanz:  Wir benutzen den Anderen, wir benutzen die Dinge. Wir sagen: was ich mit meinen Augen sehe, das ist wirklich, alles andere ist Einbildung. Und wir meinen ein Konzept des physikalischen Sehens, von dem uns schon eine einfache Photographie zeigt, dass dies physiologisch so nicht funktioniert. (* Wir sehen ja in Wirklichkeit nicht das physikalisch Gemessene, sondern auch das Gedachte der Situation. Unser Sehen ist recht komplex)

Zumeist opfern wir dabei die Wahrheitssuche/ die Erkenntnis  unserer Angst: unserer Angst vor dem Identifikationsverlust, den das Unmessbare-Unberechenbare, das „Unsichtbare“ bedeuten. 
Schon das praktische Leben offenbart diese Fallen, in der Wissenschaft spitzt sich die Problematik zu: man will die Dinge „objektiv“ sehen und man sieht sie damit „von außen“. Sehen wird ein rein physikalisch-optischer Akt und das Gesehene wird zum Objekt, das vom Subjekt durch einen unüberwindlichen Graben getrennt bleibt.

Aber unser Sehen ist mehr als ein physikalisch-optischer Vorgang. Unser Sehen ist Sinnsuche und Sinnstiftung,  - und: das ist hier wesentlich:  Unser Sehen ist vor allem ein Loslassen des Gefundenen. Sinn kann kein Besitz sein, sondern nur authentische Erfahrung des Zusammenhanges, der „Zielstruktur“ von Wirklichkeit.

Auf einer niedrigen Ebene meint Sinn auch das Utilitätsprinzip. Auf einer gültigeren Ebene aber meint Sinn, die Erkenntnis des Selbstwertes allen Seins. Es ist dies der Gedanke der Entelechie: alles ist in sich gültig, aber (und auch das ist wesentlich!) trotz ihrer Selbstgenügsamkeit „genügen“ sich die Dinge nicht: es gibt ein Geflecht des unsichtbaren Austausches, einer allgemeinen communio und Teilhabe. 

Wenn mein Sehen auf die Ebene der Selbstgültigkeit gesintert ist, wenn ich also den Anspruch aufgegeben habe, den Dingen zu diktieren, wer oder was sie sind,- wenn ich  meinen intellektuellen Herrschaftsanspruch aufgegeben habe, dann wird eine Sprache der Dinge hörbar, die einer Logik der Stille folgt. Mein Sehen wird Hinhören. Hinhören ins Unsichtbare. Und damit wird Sehen ein Wagnis. ( das Wagnis des Loslassens vergewissernder Identitäts- und Wirklichkeitsmuster)


Das in erster Instanz Unsichtbare ist jedoch kein Über- oder Widernatürliches, es verstößt nicht gegen die „Natur“,  es ist im strengen Sinn die eigentliche Natur, die unter unseren  Begriffen und Seinskonstrukten durchscheint und die sie damit in Frage stellt.
(natürlich bleibt auch hier all unsere Erfahrung Fragment und wo sie intuitive Ganzheitserfahrung wird, bleibt sie verstörendes Erlebnis.)


Es gilt, das Ohr hörend und das Auge sehend werden zu lassen. Wirkliches Sehen und Hören ist 
aber ein Wahrnehmen ohne Angst, ohne die Notdurft der Verwertung aller Eindrücke.
Orientierung meint hier Aufbruch und nicht Antwort- Haben.

Meint Kunst also eine Luxus-Realität, der man sich erst widmen kann, wenn die „eigentliche harte Realität“ bewältigt ist?  Ist Kunst ein Rückzugsgebiet der Erholung, eine belebende Illusion?
Eindeutig Nein!  Was wir gerne als „die Realität“ allgemein benennen ist ein synkretistisches Gemisch von - zuallermeist - Illusionen. Es gibt sie nicht „DIE Realität“! (*ich spreche hier von der erfahrbaren Realität)
Indem Kunst (auch in ihrer Nutzlosigkeit!) Realität befragt, gerät unsere Welt in Fluss und es zeichnet sich eine mögliche Dimension des Menschen ab, die z.B. jene materialistischen Konzeptionen von Wirklichkeit übersteigt und darin das Sein eines Menschen als Raum von Möglichkeit erst öffnet.

Solange wir aber noch angstvoll hören und sehen ist Angst der beste Kompass, um zu spüren, wo wir uns auf Angstfreiheit, sprich auf ein gültiges Sehen und Hören zu-bewegen. Denn eines ist gewiss: unsere Probleme sind Rettungsphänomene und sie beginnen damit, dass wir Angst vor der Freiheit von Angst haben.




Patrick Feldmann, November 2011, anlässlich der Ausstellung „Das Auge des Unsichtbaren“